Der orthogonale
Städtebau der Griechen
Die alten Griechen haben viel über die Stadt nachgedacht, über ihre beste
politische und städtebauliche, und sie entwickelten sehr klare Vorstellungen
hinsichtlich der idealen Grösse einer “polis”. Eine “polis”, wie alle anderen
antiken Stadtstaaten, war ein selbständiges politisches Gemeinwesen, das auch
wirtschaftlich unabhängig sein musste. Dieses Prinzip verlangte ein Gleichgewicht
zwischen der Einwohnerzahl und den Ressourcen des umgebenden Landes. Wenn die
Einwohnerzahl einer Stadt über das hinaus gewachsen war, was das Land versorgen
konnte, dekretierte die Stadtregierung die Gründung einer Kolonie, in welche
die überzählige Bevölkerung geschickt wurde. Jede dieser Kolonien bildete
ihrerseits wieder ein selbständiges Gemeinwesen, blieb aber aufgrund der
Verwandtschaftsbeziehungen und der Heimatliebe mit der Mutterstadt verbunden.
Auf diese Weise entstanden viele neue Städte griechischer Kultur in Kleinasien,
in Süditalien und in Sizilien.
In Süditalien und Sizilien entstanden griechische Kolonialstädte mit
orthogonalem Grundriss schon im 7. und 6. Jahrhundert v.Chr., darunter
Metapontum und Selinus, beide sicher vor 500 v.Chr., das 580 v.Chr. gegründete
Akragas (Agrigent), Neapolis aus dem Jahre 446 v. Chr. Die Gründung von Thurioi
neben dem zerstörten Sybaris war die ein gesamtgriechisches Unternehmen unter
Führung Athens. Von Diodor (1) erfahren wir einige Details dieser Koloniegründung,
so von der Befragung eines Orakels, der Auffindung einer Quelle, der Errichtung
der Stadtmauern, der Anlage eines Netzes breiter Hauptstrassen (plateiai) – in
der einen Richtung vier, in der anderen drei – und schliesslich von der Anlage
der Gebäude, die durch Nebenstrassen (stenopoi) erschlossen waren. Wenige Jahre
später (433/432 v.Chr.) folgte die Gründung von Herakleia. Aus dem 5.
Jahrhundert stammt auch der Stadtplan von Poseidonia (Paestum). Die Anfänge
orthogonaler griechischer Stadtplanung in Süditalien reichen jedoch noch weiter
zurück. Aufschlussreich sind in dieser Hinsicht die Ausgrabungen von Megara
Hyblea (2) gewesen, das der Tradition nach im Jahre 753 v.Chr. gegründet worden
sein soll und das 483 v.Chr. durch Syrakus zerstört wurde. Dank der archäologischen
Ausgrabungen wissen wir, dass das geradlinige, wenn auch nicht rechtwinklige
Strassennetz von Megara Hyblea aus der Zeit zwischen 650 und 600 v.Chr. stammt,
und es gibt Hinweise dafür, dass es auf einem noch älteren aufbaut, dass bei
der Gründung der Kolonie im 8. Jahrhundert v.Chr. angelegt wurde (3).
Nicht nur im italisch-sizilischen, sondern auch im
griechisch-kleinasiatischen Raum erhielten bestehende und neue Städte
orthogonale Bebauungspläne nach “hippodamischen” Muster. Olynthos, eine alte
Hügelstadt auf der Thrakischen Chalkidike, wurde im Jahre 432 v.Chr. um ein
neues, nach orthogonalem Muster angelegtes Quartier erweitert. Im Jahr 408-7 v.Chr.
schufen sich die Rhodier, die bis dahin verstreut in einzelnen Dörfern gelebt
hatten, eine Zentralstadt, die sie nach orthogonalem Muster anlegten. Um 360 v.Chr.
entstand der Plan für Knidos, etwa gleichzeitig derjenige für Priene, das zwar
keine sehr grosse aber dafür sehr elegante Stadt war.
Die Reihe orthogonal angelegter Städte setzt sich in hellenistischer Zeit
fort. Nach dem Tode Alexanders des Grossen im Jahre 323 v.Chr. entstand in
Kleinasien und in Syrien eine Reihe von Königreichen und Fürstentümern, deren
Herrscher ihrer neuen Macht durch die Anlage von Residenzstädten Ausdruck
verleihen oder durch grosszügige Stadtsanierungen sich die Gunst des Volkes zu
gewinnen suchten. Zu diesen Städten gehören das Pergamon der Attaliden, die
Stadt Halikarnassos des Königs Mausolos, die Städte Aigai, Assos, Alinda,
Labranda, das pisidische Antiochia, Sagalassos, Termessos, Kremna und Attalaia.
In Syrien und in Ägypten stellte sich das Problem etwas anders. Dort ging
es darum, griechische Militär- und Verwaltungszentren in einem Land zu
errichten, das bereits ein lange Stadttradition hatte. Plutarch (4) spricht
davon, dass Alexander bereits nicht weniger als 70 Städte, darunter Alexandria
gegründet habe. Alle diese Stadte erhielten, nach dem Vorbild der Kolonien,
einen “hippodamischen” Grundriss. In Syrien und Mesopotamien entstehen
Seleukia, die Hauptstadt des Seleucos Nicator und die Nachfolgerin Babylons,
Antiochia, Damaskus, das nach neuem Plan erweitert wurde, Laodikea, Apamea und
Beroea (Aleppo), Dura Europos, eine andere Seleukidenstadt am Euphrat.
Eines der Probleme, mit den sich die griechischen Philosophen des Altertums
auseinandergesetzt haben, war die ideale Grösse einer Stadt. Und weil zu jener
Zeit die Geometrie eine hochentwickelte und hochgeschätzte Wissenschaft war,
versuchte man, das Problem mit deren Mitteln zu lösen. So hatte Platon (5)
ausgerechnet, dass eine idealgrosse Stadt von 5040 Familien bewohnt sein müsse
und begründet diese Zahl mit ihrer Teilbarkeit durch nichtweniger als 59
Divisoren (6). In völliger Nichtachtung der Natur sozialer und wirtschaftlicher
Prozesse bestimmte er, dass eine Stadt nur dann dauerhaft sein könne, wenn die
Zahl der Familien ständig die gleiche bliebe (7), und dass im Falle einer
Überschreitung derselben, die überschüssige Bevölkerung fortgeschickt werden müsse,
um anderenorts eine Kolonie zu gründen.
Aristoteles (8), ein Schüler Platons, war in dieser Beziehung schon
vorsichtiger und hat sich nicht auf eine bestimmte Zahl festgelegt. Ausserdem
zog er es vor, von der zahlenmässigen Obergrenze einer Stadtbevölkerung zu
sprechen und nicht von ihrer idealen Grösse, aber auch für ihn ist das
Schlimmste, was einer Stadt passieren kann, eine Übervölkerung, weil eine
übergrosse Masse von Menschen nicht regierbar sei. Nach Aristoteles (9) sollte
eine Stadt gerade so gross sein, dass ihre wirtschaftliche Selbständigkeit und
ihre Regierbarkeit garantiert bleiben..
Anmerkungen
(1) Diodor XII 10
(2) Vallet, Villard et Auberson: Experiénces coloniales en
Occident et urbanisme grec: Le fouilles de Megara Hyblea; in: Annales de l’Ecole
française 25, 4, (1970), p. 1102-1113 (avec plans)
(3)
Ward Perkins, J.: Cities …., op.cit. S. 23-24
(4)
Plutarch, Alex.
I 5
(5)
Platon, Nomoi
V, 737-738
(6) Die Zahl 5040 ist das Produkt aus 1 x 2 x 3 x 4 x 5 x 6 x
7
(7) Platon, Nomai, V 740b
(8) Aristoteles, Politik VII, 4
(9) Aristoteles, Politik VII, 5
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