Die Ausrichtung der römischen Stadtgrundrisse war lange Zeit Gegenstand von
wilden Spekulationen und Diskussionen. Eine der ersten Hypothesen war
diejenige, dass die Liniennetze der Städte, wie auch die der Centuriationen,
aus religiösen Gründen genau nach den Haupthimmelsrichtungen ausgerichtet
worden seien. Diese Hypothese stützte sich auf einer Beobachtung Pigorinis (1),
der am Anfang des 20. Jahrhunderts diese Ausrichtung bei den
Terramare-Siedlungen beobachtet haben wollte. Vierzig Jahre später widerlegte
Saeflund (2) diese HYpothese. Auch die Interpretation der etruskischen
Ritualbücher durch Thulin (3) und der Bericht von der legendären “urbs
quadrata” Roms sowie einige Stellen in
den Schriften der römischen Feldmesser galten als Belege für die astronomische
Ausrichtung römischer Städte.
Man glaubte, die Orientierung nach den Haupthimmelsrichtungen sei eine von
den Etruskern übernommene Grundregel der römischen Stadtplanung gewesen. Der Grundriss
der etruskischen Kolonie Misa (Marzabotto) schien dies zu bestätigen. Aber
schon bald erkannte man (4), dass die Orientierung der Stadtgrundrisse auf die
astronomischen Kardinalpunkte eine Ausnahme bildet, man hielt es aber für
möglich, dass in gewissen Fällen eine solche angestrebt worden sei. Zu einem
ähnlichen Schluss gelangte man bezüglich der Centuriationen, “die nicht die
geringste Rücksicht auf die Lage der Himmelsgegenden (zeigen), sondern sich nur
nach praktischen Gesichtspunkten orientieren” (5).
Bis heute hat sich verschiedentlich die Auffassung erhalten, dass der
Himmelsrichtung bei der Orientierung von Städten und Centuriationen doch eine
gewisse Bedeutung zukommt. Diese Auffassung stützt sich auf die Angabe der
römischen Feldmesser (6), dass der “decumanus” einer Limitation in
Ost-West-Richtung zu verlaufen habe, wobei die Ostrichtung nach dem Punkt des
Sonnenaufgangs am ersten Vermessungstag zu bestimmen sei (7) Hieraus und aus der Tatsache, dass die
römischen Kolonien häufig ihren Geburtstag feierten, folgerte Laur-Belart (8),
dass die römische Kolonie Augusta Raurica bei Basel am 21. Juni des Jahres 44
v.u.Z. gegründet worden sei, denn ihr “decumanus” weist auf den Punkt, an dem
die Sonne am längsten Tag des Jahres aufgeht.
Hätten die römischen Mensoren die Strassen- und Limitationsnetze nach den
Haupthimmelsrichtungen orientieren wollen, so hätten sie das ohne weiteres
gekonnt. Ein Verfahren dazu beschreibt Vitruv (9) ganz genau:
“Man lege in der Mitte der Stadt eine
marmorne glatte Scheibe wagrecht hin oder mache nach Richtscheit und
Wasserwaage eine Stelle so glatt, dass eine glatte Scheibe nicht erforderlich
ist, und im Mittelpunkt dieser Scheibe stelle man einen bronzenen Stab (gnomon)
senkrecht auf. Ungefähr um die fünfte Vormittagsstunde ist der äusserste Punkt
des Schattens dieses Stabes festzustellen und zu markieren. Dann muss man, nach
dem der Zirkel (vom Mittelpunkt der Scheibe) bis zum Punkt, der die
Schattenlänge des Stabes markiert, auseinandergezogen ist (mit dieser
Entfernung als Radius) um den Mittelpunkt einen Kreis schlagen. Ebenso muss der
nachmittäglich wachsende Schatten dieses Gnomons beobachtet werden, und, wenn
er die Kreislinie berührt und einen nachmittäglichen Schatten wirft, der gleich
lang ist, wie der vormittägliche, muss (das Schattenende) markiert werden. Von
diesen beiden Punkten muss mit dem Zirkel ein kreuzweiser Durchschnitt
beschrieben und durch den Durchschnitt der Kreisbögen und dem Kreismittelpunkt
eine Linie gezogen werden bis zum äussersten, damit man die Mittagslinie
(Südrichtung) und die Nordrichtung bekommt”.
Auch wenn das von Vitruv beschriebene geometrische Verfahren zur Festlegung
der Nord-Süd-Richtung bekannt war, scheint es einfacher und praktischer gewesen
zu sein, die Ostrichtung nach dem Ort des Sonnenaufgangs zu bestimmen. Diese
letztere Methode ist auch zur Ostung von christlichen Kirchen benutzt worden. Ich
selbst habe festgestellt, dass die Längsachsen verschiedener Kirchen in Umbrien
so orientiert sind, dass sie auf den Punkt des Sonnenaufgangs am Tag des Stadt-
oder Kirchenpatrons zeigen. Darin mag sich ein alter, aus römischer, wenn nicht
schon aus etruskischer Zeit stammender Gebrauch erhalten haben.
Wie es tatsächlich mit der Orientierung römischer Bebauungspläne bestellt
ist, so habe ich 44 dieser nach Regionen gegliederten Stadtgrundrisse untersucht
mit dem Ergebnis, dass so gut wie alle denkbaren Orientierungen vorkommen.
Eine geringe Abweichung (1-5°) von der Nord-Süd-Richtung haben die
Grundrisse von Florenz, Lucca, Marzabotto, Brescia, Colchester, Köln, Narbona,
Silchester und Timgad. Bei solchen geringen Abweichungen könnte man annehmen,
dass eine Nordung des Stadtgrundrisses angestrebt war, man muss aber auch noch
andere Elemente in Betracht ziehen. So entwickeln sich das römische Florenz und
das römische Köln etwa parallel zu den Flüssen, an denen sie liegen, bei
anderen Städten, gab die Überlandstrasse die Richtung an, wie zum Beispiel bei
Imola, das an einem geraden Stück der Via Aemilia liegt, die durch die Stadt
hindurchführte.
Was die Ausrichtung der Stadtgrundrisse betrifft, so kann man davon
ausgehen, dass dabei auch Faktoren wie die Besonnungs- und Klimaverhältnisse,
die topographische Beschaffenheit des Ortes sowie der Verlauf von bestehenden
Überlandstrassen und Flussläufen eine Rolle gespielt haben.
Ausrichtung nach den
Winden
Vitruv (10) nennt als Kriterium für die Ausrichtung der Stadtstrassen die
Windrichtung. Ihm ist viel an der Gesundheit der Stadtbewohner gelegen und so schreibt
er, dass die Strassen dann richtig ausgerichtet sind, “wenn aus (ihnen) auf kluge Weise die Winde ausgeschlossen werden. Wenn
diese (Winde) kalt sind, tun sie weh, wenn sie warm sind, lassen sie kränkeln,
wenn sie feucht sind, schaden sie (der Gesundheit)”. Um die negativen
Auswirkungen der Winde auf die Gesundheit auszuschliessen oder doch zu mildern,
müssen die Stadtstrassen so ausgerichtet sein, dass den Hauptwinden kein freier
Durchzug gewährt wird….. Wenn nämlich die Hauptstrassen in Richtung auf die
Hauptwinde angelegt sind, dann wird der Sturm und das häufige Wehen der Winde
vom offenen Himmel her, in den Engen der Nebenstrassen ziusammengedrängt, mit
grösserer Kraft hindurchziehen. Deshalb müssen die Richtungen der Häuserreihen
von den Windrichtungen abgewendet sein,
damit (die Winde), wenn sie auf die Ecken der Häuserblöcke stossen, gebrochen
werden und zurückprallend sich zerstreuen” .
Die
Windrose Vitruvs mit eingezeichntem Stadtstrassenraster
Das von Vitruv beschriebene Verfahren zur Ausschliessung lästiger Winde
mutet sehr theoretisch an. Es handelt sich um die geometrische Konstruktion
einer achtteiligen Windrose, in die der Stadtplan unter einem bestimmten Winkel
eingezeichnet wird. Die Windrose konnte bestenfalls dazu dienen, die Himmelsrichtungen
festzulegen, um dann die vorherrschenden Windrichtungen an einem Ort zu
ermitteln. Noch einfacher wäre es gewesen, Ortsansässige zu fragen, denn diese
wissen am Besten, aus welcher Richtung die lästigsten Winde wehen.
Nach
Vitruvs Verfahren mit der achteckigen Windrose erhalten die Strassen eine um
22,5° von der Nord-Süd-Achse abweichende Orientierung, d.h. eine Ausrichtung
gegen NNO-SSW oder NWW-SSO. Die Fernhaltung lästiger Winde aus dem Stadtraum
ist sicher ein wichtiger Gesichtspunkt, aber auch dessen gute Durchlüftung ist
wichtig.
Ausrichtung nach der
Sonne
Ein wichtiges Kriterium für die Ausrichtung von
Wohnräumen ist die Besonnung. Vitruv behandelt
diese Ausrichtung im Zusammenhang mit den verschiedenen Arten von Bauwerken aber
nicht im Zusammhang mit der Anlage des städtischen Strassennetzes.
Die Orientierung von Gebäuden nach der Sonne hat den Zweck, diesen im
Winter möglichst viele wärmende Sonnenstrahlen zu verschaffen und im Sommer
übermässige Erhitzung zu vermeiden. In diesem Sinne hat sich in europäischen
Breiten die Südorientierung der Gebäude schon immer als die günstigste
erwiesen, sofern im Sommer schattenspendende Elemente eine direkte Sonneneinstrahlung
in die Gebäude und somit ihre Überhitzung verhindern. Das wussten auch die
antiken Architekten und haben vielfach danach handelt.
Gaetano Vinaccia, ein italienischer Autor des letzten Jahrhunderts (11),
will festgestellt haben, dass die Ausrichtung der Strassennetze vieler
italienischer Städte römischen Ursprungs um etwa 30° von der Nord-Süd-Richtung abweichen
und hat daraus gefolgert, dass sie unter Berücksichtigung der in Italien
üblichen Besonnungsverhältnisse angelegt worden sind. Vinaccia zufolge, sollten
in Italien die Strassen nicht nach den Haupthimmelsrichtungen ausgerichtet
sein, sondern, um eine zweckmässige Besonnung zu erreichen, eher gegen NO-SW
oder NW-SO. Er kommt zum Schluss, dass die “von den Römern festgestellten
heliothermischen Zusammenhänge …. die gleichen (sind), die wir heute aufgrund
genauer Berechnungen gewinnen”.
Die Zweckmässigkeit einer Abweichung von etwa 30° von der Nord-Südachse ist
nun keinesfalls bewiesen, wie Vinaccia meint. Um optimale Wärmegewinne zu erzielen
ist eine allgemeine Südorientierung in jedem Fall zu bevorzugen, wobei eine
maximale Abweichung von 30° tolerierbar ist. Die grossen römischen Thermen Roms
sind alle nach Südwesten ausgerichtet, und zwar weil die Hauptbadezeit damals
der frühe Nachmittag war.
Viel wichtiger
als die Ausrichtung der Strassen ist die Ausrichtung der Wohnräume zur Sonne. Vitruv (12) widmet dieser Ausrichtung ein ganzes Kapitel seines
Werkes.
„Winterspeisezimmer und Bäder sollten gegen Süd-Süd-West gerichtet sein,
weil man so das Abendlicht ausnützt und auch weil die Abendsonne Wärme
ausstrahlt und diese Räume erwärmt. Schlafzimmer und Bibliotheken müssen gegen
Osten gerichtet sein, denn ihre Benutzung erfordert die Morgensonne, und
ausserdem modern in den Bibliotheken die Bücher nicht. In Räumen nämlich, die
nach Süden und Westen ausgerichtet sind, werden die Bücher von Bücherwurm und
Feuchtigkeit beschädigt, denn die von dort kommenden feuchten Winde bringen
Bücherwürmer hervor, begünstigen deren Fortpflanzung und rufen durch ihre
Feuchtigkeit Schimmel hervor, der die Bücher verdirbt. Die Frühlings- und
Herbstspeisezimmer müssen nach Osten sehen. Denn, dem Licht ausgesetzt, werden
sie von der aufgehenden, nach Westen fortschreitenden Sonne, erwärmt, so dass sie zu der Zeit, zu
der man sie gewöhnlich benutzt, mässig warm sind. Sommerspeisezimmer sind nach
Norden auszurichten, weil diese Ausrichtung nicht wie die übrigen zur Zeit der
Sonnenwende nicht glühend heiss wird; denn, der Sonne abgewandt, ist sie immer
kühl und garantiert während Benutzung Gesundheit und Annehmlichkeit. Nach
Norden sind auch die Pinakotheken, die Werkstätten der Brokatweber und die
Ateliers der Maler auszurichten, damit die Farben dank des immer gleichmässigen
Lichtes ihre Qualität nicht verlieren“.
Um die Ausrichtung der
Speisezimmer zu verstehen, muss man wissen, dass die Römer ihre Hauptmahlzeit,
die cena, am späten Nachmittag
einnahmen, nachdem sie vorher die Thermen besucht hatten. Die anderen zwei
Mahlzeiten, das Frühstück (jentaculum) und das Mittagessen (prandium) waren einfache Imbisse, die meistens
in Eile eingenommen wurden. Ausserdem ist zu berücksichtigen, dass sich Vitruvs
Empfehlungen auf Häuser beziehen, die maximal zwei Geschosse hatten und deren
Besonnung kein grosses Problem war.
Berücksichtigung
topographischer Faktoren
Dass man eine Stadt mit Rücksicht auf die örtliche Topographie ins Gelände
legt, ist eigentlich das natürlichste. Um die unerlässliche Befestigung der
Orte zu erleichern, wählte man früher möglichst Gelände mit steilen, schwer
erklimmbaren Rändern an denen die Befestigungswerke errichtet wurden. Die
zweckmässigste Ausrichtung der Strassen war dann die, die sich besten in das
von den Mauern begrenzte Gelände einfügen lies. Dieser Gesichtspunkt wird von
Vitruv nicht erwähnt, wahrscheinlich, weil dieses Vorgehen überhaupt das
übliche und bequemste war und deshalb die von Vitruv für wichtig gehaltenen
Aspekte oft zu kurz kamen.
Will man etwas über den Einfluss der örtlichen Topographie auf die
Ausrichtung der römischen Stadtgrundrisse erfahren, muss man schon die
jeweilige Situation genau anschauen. In Augusta Raurica hat man bei der
Ausrichtung der Strassen ganz eindeutig auf das Gelände Rücksicht genommen. Die
Nord-Süd-Strassen weichen von der geographischen Nord-Süd-Achse um etwa 37°
gegen Westen ab, denn sie verlaufen rechtwinkling zum Hügelfuss im Süden und
parallel zu den Flanken des ins Rheintal vorgeschobenen Geländeschildes. Diese
Ausrichtung erlaubte es, immerhin drei Nord-Süd-Strassen un voller Länge durch
das Gelände zu ziehen. Das diese Ausrichtung die vorteilhafteste im gegebenen
Gelände ist, beweisen vier Wege östlich der römischen Stadt, welche etwa die
gleiche Ausrichtung haben, jedoch das Ergebnis einer modernen Landumlegung
sind. Man sieht also, dass die heutigen Vermessungsingenieure nach den gleichen
Gesichtspunkten gearbeitet haben wie 2000 Jahre früher ihre römischen Kollegen.
Wenn man das relativ kleine Raster städtischer Strassennetze mit Rücksicht
auf die Topographie ausgerichtet hat, so gilt dies erst recht für die
Grossraster der Centuriationen. Dies wird sogar von den römischen Feldmessern
selbst bestätigt. Nach Frontinus (13) und Hyginus Gromaticus (14) soll eine der
Hauptvermessungslinien des zu limitierenden Geländes durch dessen grösste
Ausdehnung gelegt werden (“non nulli alid secuti, ut quidam agri magnitudinem,
qui qua longior erat, fecerunt decumanum”). Je länger eine gerade Linie im
Gelände gezogen werden kann, um so exakter fällt die Vermessung aus.
Wenn nicht das Gelände für die Ausrichtung den Ausschlag gab, so waren es
in manchen Fällen der Flusslauf. Das römische Köln ist so angelegt, dass seine
Nord-Süd-Strassen parallel zum Rhein verlaufen. Im Falle Veronas dürfte die
Überbrückung der Etsch für die Anlage des Strassennetzes entscheidend gewesen
sein, und auch Parma liegt so am Fluss, dass dieser und die rechtwinklig zu ihm
verlaufende und ihn überquerende Hauptstrasse die Stadt in vier Teile gliederte
(15).
Ausrichtung nach der
Centuriation und den Landstrassen
Ausser geographischen und topographischen Gegebenheiten sind es oft auch
andere Elemente der Raumordnung gewesen, insbesondere Centuriationen, welche
bei der Ausrichtung von römischen Stadtgrundrissen eine Rolle gespielt haben.
So bezeichnet es Hyginus (16) als ideal, wenn der “decumanus maximus” und der
“cardo maximus” einer Centuriation zugleich die Hauptvermessungslinien des
Stadtgrundrisses bilden, so dass diese Linien sich im Mittelpunkt der Stadt
kreuzen und zu den Toren der Stadt hinauslaufen. Hyginus selbst gesteht aber
ein, dass dies nur in Ausnahmefällen zu erreichen sei und gibt als Beispiel für
solche eine Ausnahme die Stadt Admedara in Nordafrika an.
Die Koordinierung von Centuriation und Stadtgrundriss beschränkt sich
hauptsächlich auf eine gleiche Ausrichtung beider Elemente. Es war dazu nicht
nötig, dass der “decumanus maximus” der Flurteilung unbedingt durch die Stadt
verlief; er konnte auch in Stadtnähe verlaufen (17), wie im Fall von Lucca (18).
In Lucca verläuft die südliche Stadtmauer parallel zu einem “decumanus” und die
in Nord-Süd-Richtung verlaufende Hauptstrasse der Stadt fällt genau mit einem
“cardo” zusammen, der heute noch im Gelände durch den Lauf des Fosso Formicola
markiert wird. Das römische Lucca lag jedoch nicht innerhalb der Centuriation,
sondern zwischen dieser und dem Flüsschen Serchio.
Gut sichtbar ist die Verbindung von Stadtgrundriss und Centuriation in
Imola (Forum Corneli) an der Via Aemilia, etwa 35 km südöstlich von Bologna.
Nordöstlich der Via Aemilia erstreckt sich die Centuriation in die Ebene
hinein, südwestlich von ihr liegt die Stadt; beide sind wie die Via Emilia
ausgerichtet und selbst die heutige Eisenbahnlinie verläuft auf einem alten
“decumanus”.
Die Forderung Hygins einem Stadtgrundriss die gleiche Ausrichtung zu geben wie
der Centuriation, hat nichts mit Ästhetik zu tun, sondern entspringt einer praktischen
Überlegung. Flurgrenzen und -marken im Gelände können sich mit der Zeit
verlieren oder willkürlich verändert werden, sie lassen sich aber leicht
rekonstruieren sofern es einige unveränderliche Vermessungsfixpunkte gibt. Gute
und beständige Fixpunkte sind zum Beispiel Ecken von Stadtmauern und Gebäuden.
In Ländern, die kein genaues und versiegeltes Vermessungssystem besitzen,
werden solche Elemente auch heute noch von den Geometern als Fixpunkte
herangezogen. Befand sich, wie Hyginus es empfiehlt, der Mittelpunkt des
Vermessungssystems in der Stadt und war dort fest markiert, und hatten überdies
die Stadtstrassen die gleiche Ausrichtung wie die “limites” der Centuriation,
so konnte man jederzeit im Bedarfsfall das gesamte System unschwer
rekonstruieren. Die Forderung nach Koordinierung von Stadt- und Centuriationsraster
ist also keine theoretische Spitzfindigkeit, sondern eine praktische Vorkehrung.
Ob und wieweit Landstrassenverlauf, Centuriation und Stadtgrundriss
miteinander verbunden werden konnten, das bestimmte in letzter Instanz die
Topographie des Landes. Deshalb finden wir in Italien Gesamtsysteme von Stadt,
Landstrasse und Centuriation vor allem in der weiten Po-Ebene. Dort bildet die
parallel zu den vorapenninischen Hügeln verlaufende Via Aemilia zwischen
Caesena und Placentia das Rückgrat der Städte und Centuriationen. Wie Perlen
auf einer Schnur sind auf ihr die Städte Forlì, Faenza, Imola, Bologna, Modena,
Reggio Emilia, Parma, Fidenza und Piacenza aufgereiht. Die Centuriationen
erstrecken sich von der Strasse gegen das offene Land, mehr oder weniger streng
auf diese Achse bezogen. Die grossen geradlinigen “viae publicae” bilden oft
das gemeinsame Rückgrat von Stadtgrundriss und Centuriation (19).
Das ist jedoch nicht die Regel. Manche grosse römische Überlandstrassen sind
erst viel später als die Städte gebaut worden, die an ihnen liegen, und ihr
Verlauf musste an den der Stadtstrassen angepasst werden. In Bologna verläuft
die Via Aemilia mit zwei deutlichen Knicken, vielleicht weil man die
Hauptstrassen der Stadt, die schon vom etruskischen Felsina her vorgegeben
waren, beibehalten wollte als die römische Strasse gebaut wurde. In Mutina
(Modena) und Parma passt sich das städtische Strassennetz der Ausrichtung der Überlandstrasse
an (20). Die Via Emilia folgt der natürlichen Ausrichtung der Höhenzüge des
Apennin und seiner Ausläufer und ihren geradlinigen Verlauf verdankt sie dem
ebenen Gelände durch das sie führt.
Ein Beispiel für die Anpassung des Landstrassenverlaufs an ein
Stadtstrassennetz nennt Hyginus Gromaticus (21) den Fall der Stadt Anxur
(Terracina). Diese römische Kolonie wurde 329 v. Chr. gegründet, also 17 Jahre
vor dem Bau der Via Appia, war also zum Zeitpunkt des Strassenbaus schon vorhanden und vielleicht auch
centuriert. Durch die Richtungsänderung der Strasse erreichte man, dass die Via
Appia auf dem “decumanus maximus” durch die Stadt geführt werden konnte (“decimanus maximus per viam Appiam observatur”).
Eine ähnliche Anpassung wurde auch in Capua vorgenommen. Auch dort verläuft die
Via Appia die Stadt mit zwei deutlichen Knicken (22).
Wenn Planung und Bau von Städten und Landstrassen auch meist nicht
gleichzeitig erfolgte und deshalb später Anpassungen notwendig waren, so war es
jedoch häufig möglich Stadtplan und Centuriation aufeinander abzustimmen, denn
die Koloniegründungen verlangten eine vorgängigen Landaufteilung, um den
anzusiedelnden Kolonen das erfoderliche Ackerland zuteilen zu können. Bei
dieser Landaufteilung wurde wohl in der Regel auch der Standort der städtischen
Siedlung festgelegt, damit diese eine günstige Lage zu den Feldern bekam.
Der Einfluss älterer Siedlungsstrukturen
In machen Fällen folgt die Ausrichtung römischer Stadtstrassennetze
früheren Bebauungen, zum Beispiel in diejenigen Fällen, in denen zerstörte
Städte und Stadtteile wieder aufgebaut werden mussten.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Stadt Karthago, die etwa 15 km nördlich
der heutigen Stadt Tunis liegt. Karthago war eine Gründung phönizischer
Kaufleute aus Tyrus und entwickelte sich in der Folge zum Zentrum des punischen
Handelsimperiums. Damit wurde es zum grössten Konkurrenten Roms im
Mittelmeerraum. Nach der Vernichtung der punischen Vormachtstellung im 2.
Punischen Krieg (218 bis 201 v. Chr.) war es Roms Absicht, Karthago völlig
niederzuhalten. Die Zerstörung der Stadt erfolgte jedoch erst im Jahr 146 v.
Chr. durch P. Cornelius Scipio Aemilianus, doch schon 24 Jahre später, im Jahre
122 v. Chr. brachte Gaius Gracchus im Senat den Antrag ein, auf dem Territorium
Karthagos eine römische Kolonie anzulegen. Trotz des Widerstandes im Senat kam
es zur Koloniegründung, doch schon ein Jahr später musste die Kolonie aus
staatsrechtlichen Gründen – Kolonien konnten nicht auf Provinzialboden
gegründet werden –wieder aufgehoben werden (23). Trotzdem gelang es C. Gracchus
auf karthagischem Boden 6000 römische Bürger anzusiedeln, wenn auch ohne
Koloniestatus, wozu das ganze Territorium vermessen und aufgeteilt wurde (24).
Zur richtigen, dauerhaften Koloniegründung auf karthagischem Boden kam es aber
erst im Jahre 45 v. Chr. unter Caesar, der dort Soldaten ansiedelte (25) und
auch die Stadt Karthago wieder aufbauen liess. Weitere 3000 Bürger wurden im
Jahre 29 v. Chr. durch Augustus angesiedelt (26). Der Wiederaufbau Karthagos in
der zweiten Hälfte des 1. Jahrhundert v. Chr. war eigentlich ein Neuaufbau,
denn die Stadt war weitgehend zerstört. Die neueren Ausgrabungen im Stadtgebiet
von Karthago haben gezeigt, dass der Stadtplan der römischen Stadt sich auf dem
der vorhergehenden punischen Stadt entwickelte, die einen orthogonalen
“hippodamischen” Grundriss hatte, also in längliche schmale “insulae” geteilt
war (27). Das Grundraster dieser Stadtanlage und seine Ausrichtung parallel zur
Küstenlinie wurde von den Römern beim Wiederaufbau beibehalten, weil sich
dadurch ein Teil der alten Strassen und Abwasserkanäle weiterbenutzen liess und
die neuen Gebäude unter Benutzung der vorhandenen Fundamente errichtet werden
konnten. Insbesondere liessen sich auf diese Weise die Zisternenanlagen
erhalten, die jedes karthagische Haus besass, und die nun schon ziemlich tief
unter dem Erdgeschossniveau lagen.
Schlussfolgerungen
Damit wird deutlich, dass sich die Ausrichtung vieler raumordnender
Elemente, vornehmlich die der Strassen, sich den örtlichen topographischen
Verhältnissen anpasst, die somit zum ausschlaggebenden Faktor wird. Wenn wir
entdecken, dass bei römischen Städten oft Strassen, Flurteilung und
Stadtgrundriss ineinandergreifende Teile eines einzigen Systems sind, so ist
das kein blosser Formalismus, sondern häufig reine Zweckmässigkeit.
Anmerkungen
(1)
Pigorini,
in: Bull. Pal. It. XXVI (1900)
(2)
Saeflund:
Le Terramare, in: Acta Instituti Romani Regni Sueciae, VII (1939)
(3) Thulin: Die etruskische Disziplin I-III, Göteborgs Högskolas Årsskrift
(1905, 1906, 1909)
(4) Lehmann-Hartleben: “Städtebau” in: RE Bd, IIIA, col. 2049
(5)
Fabricius:
“Limitation”, in: RE XIII, col. 686
(6)
Front. 27, 13; 31, 1. Hyg. Grom.
166, 10
(7)
Front. 31, 4.; Hyg. Grom. 170,3;
182,8; 183,13
(8) Laur-Belart, R.: Führer durch Augusta Raurica, a.a.O., S.10; vgl. Stohler,
H.: Rekonstruktion des Vermessungssystems der Römerkolonie Augusta Raurica, in:
Schweizerische Zeitschrift für Vermessung, Kulturtechnik und Photogrammetrie,
Nr. 12 (1957)
(9)
Vitruv, de arch. I, VI
(10)Vitruv, de arch. I,
VI, 1
Vitruv, de arch. I,
VI, 6-7
(11)Vinaccia, G.: Il
problema dell’orientamento nell’urbanistica dell’antica Roma. Quaderni
dell’Istituto di Studi Romani, Roma 1939
(12)Vitruv, de arch., VI, 4, 1-2
(13)Front. 29, 2
(14)Hyg. Grom. 170, 10
(15)Philipp, in: RE
XVIII, S. 1545
(16)Hyg. Grom. 180ff.
(17)Hyg. Grom. 178,12; 179,8)
(18)Somella, P. &
C.F. Giuliani: La pianta di Lucca Romana, Roma 1974, Tafel I
(19)Lehmann-Hartleben: “Städtebau” in:
RE Bd, IIIA, S. 2050
(20)Fraccaro, P.:
Opuscula III, S. 51ff., 63ff., 151ff.; vgl. Radke, in: RE Suppl. Bd. XIII, S. 1423
(21)Hyg. Grom. 179,11 ff.